Was man über Trauma wissen sollte...

Myrtha Faltin Trauma Konferenz - stART international_Bewegung_gemeinsamer Schwung

...wenn man mit potentiell traumatisierten Menschen arbeitet, lebt oder selber betroffen ist.

Blog-Artikel von Myrtha Faltin, stART international e.V. emergency aid for children©, Auszug aus dem Handout von stART für die Fortbildung von Flüchtlingshelfern.

In der gegenwärtigen, globalen Krise stellt stART international e.V. mit Sitz in Gröbenzell bei München seine 17-jährige Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Menschen auch online zur Verfügung.

1. Was ist ein traumatisches Ereignis?

Die Begründer der Psychotraumatologie, Fischer und Riedesser definieren ein Psychotrauma als ein objektiv feststellbares Ereignis ausserhalb der Erfahrungsnorm, das den (drohenden) Tod, die schwere Verletzung oder die Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen oder einer oder mehrerer anderer Personen beinhaltet, ebenso das subjektive Erleben von Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, intensiver Furcht und Entsetzen.

Traumatische Ereignisse hinterlassen nachweisbare Spuren bei den Betroffenen, v.a. die Kommunikation der linken und rechten Gehirnhälfte ist eingeschränkt. Gleichzeitig gehört es zur Natur von Traumatisierungen, dass sie den Betroffenen äusserlich nicht anzusehen sind.

Auch und gerade wenn das Wort Trauma (was ursprünglich aus dem Griechischen kommt und „Verletzung“ bedeutet) zurzeit inflationär benutzt wird, ist es wichtig zwischen Notfällen und Traumata zu unterscheiden.

Bei einem Notfall kann es sich auch um eine subjektiv erlebte Belastung handeln, während ein Trauma immer auf ein objektiv stattgefundenes Ereignis zurückzuführen ist.

Was wir für einen Notfall halten, hängt im Wesentlichen von

  • unserer Lebenssituation,

  • unserer Werteordnung und unserem Weltverständnis

  • unserer seelischen Belastbarkeit ab.

Ob sich aus einem Notfall eine therapeutische Notwendigkeit ergibt, entscheidet die individuelle Not der Betroffenen. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass ein Notfall eine traumatisierende Wirkung haben kann.

Ob sich aus einem traumatischen Erlebnis eine therapeutische Notwendigkeit ergibt, entscheidet der Verlauf, entscheidet die Frage, ob es gelingt, mit dem Erlebten ohne anhaltende seelische Beeinträchtigungen zurechtzukommen.

2. Merkmale potentiell traumatisierender Ereignisse

  • Hohe Identifikation

  • Massive persönliche Betroffenheit

  • Hohe Intensität

  • Existentieller Charakter

  • Kontrollverlust

  • Schuldgefühle (z.B. Überlebensschuld)

Auch Menschen, die Zeugen eines traumatischen Ereignisses sind, können traumatisiert werden.

3. Wie wirkt sich ein Trauma aus?

Wir müssen von einem prozessualen Verlauf ausgehen.

  • Es passiert ein (oder mehrere) extrem belastendes Ereignis

  • Die Betroffenen reagieren spontan mit evolutionär angelegten Reaktionen (3.1)

  • Es folgt eine unmittelbare Akute Belastungsreaktion (3.2)

  • Die Akute Belastungsreaktion klingt ab und die Betroffenen integrieren das Erlebte in ihre Biografie
    ODER sie erkranken an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (3.3)

3.1. Die unmittelbare Reaktion in der traumatischen Situation

Es kann nicht vorausgesagt werden, wie ein Mensch in einer traumatischen Situation reagiert. Die Evolution hat uns dafür drei tendenziell unterschiedliche Möglichkeiten mitgegeben:

  • Entweder versuchen wir zu fliehen,

  • oder wir gehen in eine kämpferische Auseinandersetzung,

  • oder wir fühlen uns ausserstande zu reagieren. In diesem Fall erstarren wir, vielleicht stellen wir uns auch tot.

3.2. Die Akute Belastungsreaktion

Unmittelbar nach dem Ereignis zeigen sich andere Symptome als Wochen/Monate später:

Zunächst tritt eine Akute Belastungsreaktion (ABR) (nach ICD 10 gehört diese zu den Anpassungsstörungen) auf. Diese ist eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis und klingt in den meisten Fällen nach etwa 4-6 Wochen ohne jede Behandlung ab. Geschieht dies nicht, verändern sich die Beschwerden.

In der Zeit der Akuten Belastungsreaktion herrscht eine allgemeine Orientierungslosigkeit vor, die einzelnen Symptome vermischen sich, überdecken einander. Z.B. können Betroffene sich völlig gefühllos wahrnehmen, „ganz leer“ und zugleich unter Überlebensschuld leiden. Aggressive Schübe und Hilflosigkeit können ebenso kombiniert auftreten.

In der Zeit der Akuten Belastungsreaktion entscheidet sich, ob das belastende Ereignis bewältigt werden kann.

3.3. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

In der folgenden Tabelle wird verdeutlicht, wie sich Menschen unmittelbar nach einem potentiell traumatisierenden Ereignis fühlen und wie sich diese Beschwerden wandeln, wenn eine Verarbeitung nicht gelingt.

Eine Posttraumatische Belastungsstörung hat dauerhafte Veränderungen und Beeinträchtigungen des Seelenlebens zur Konsequenz. Sie kann nicht nur das Leben der unmittelbar Betroffenen beeinflussen, sie kann sich somatisieren, d.h. körperliche Beschwerden verursachen und sich auch transgenerativ auswirken. So gibt es beispielsweise jetzt noch Menschen, die unter den Traumata ihrer Eltern und Grosseltern während des Zweiten Weltkrieges leiden.

Primäre Symptome
(zeigen sich zunächst)

xx

Sekundäre Symptome
(zeigen sich im späteren Verlauf)

Gefühl der Empfindungslosigkeit

 

Sich aufzwängende sensorische Wiedererinnerungen

Fehlen der emotionalen Reaktionsfähigkeit
Emotionale Instabilität

 

Schlafstörungen, Albträume
Beeinträchtigte Impulskontrolle

Wahrnehmungsstörungen

 

Appetitlosigkeit

Gedächtnisverlust

 

Flashbacks, Übelkeit, Erbrechen

Derealisation, Depersonisation

 

Konzentrationsschwierigkeiten, Schreckhaftigkeit

Verlust der Orientierung

 

Sozialer Rückzug

Kontrollverlust

 

Tendenz zu vermeidendem Verhalten

Verzweiflung

 

Hilflosigkeit


In beiden Fällen: Beträchtlicher Schweregrad

4. Was muss im Umgang mit potentiell traumatisierten Menschen beachtet werden?

Menschen sieht man es nicht an, dass sie traumatisiert sind. Jede Hilfe, jede therapeutische Bemühung soll ressourcenorientiert ausgerichtet sein. Ressourcenorientiert bedeutet zu ergründen:

  • Was gibt dem Menschen Kraft? Was ermöglicht ihm heute hier zu sein und ev. um Hilfe zu bitten?

  • Eigene Bewältigung? Familie, Freunde, Partner? Natur? Religion? Spiritualität?

  • Was ist immer wichtiger für sie / ihn gewesen als alles andere?

  • Welche Bewältigungsstrategie wurde bisher verwendet?

Ressourcenorientierte Vorgehensweisen stärken die Selbstheilungskräfte, indem sie daran erinnern, was positiv war oder auch noch ist.

Es ist wesentlich sich am anderen Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen Erfahrungen und v.a. auch mit seinem kulturellen Hintergrund zu orientieren. Beachtet man den kulturellen Hintergrund der Betroffenen nicht, so kann das vor allem anfangs zusätzlich destabilisierend wirken.

Auf geflüchtete Menschen wirken gerade am Anfang so vielfältige Reize, dass es falsch wäre, sie gleich mit Integrationsbestrebungen zu konfrontieren. Jeder Einzelne muss erst selbst auch innerlich im Gastland ankommen.

Menschen, die durch Flucht oder Vertreibung alles verloren haben, halten oft verstärkt an ihren kulturellen Äusserungen und ihren religiösen und traditionellen Vorstellungen fest, um sich nicht zu verlieren. Erst, wenn sie die fremde Kultur etwas kennen lernen konnten, sind sie in der Lage, ihre Elemente in das eigene Weltbild zu integrieren.

5. Kann Trauma geheilt werden?

Grundsätzlich gilt, dass ein Grossteil der Menschen in der Lage ist , traumatische Erlebnisse zu überwinden. Dies bedeutet nicht, dass diese keine Narben in ihrem Seelenleben hinterlassen. Ob eine Überwindung gelingen kann, hängt von der seelischen Ausstattung der Einzelnen ab und auch davon, auf welche Vorerfahrungen das neue Ereignis trifft. Von Bedeutung ist zusätzlich, über welchen Zeitraum sich das traumatische Ereignis oder die sich wiederholenden Ereignisse erstrecken.

Die Prognosen sind für die einzelnen Arten von Traumatisierungen verschieden. Einmalige Ereignisse (wie z.B. ein Erdbeben) können in der Regel besser verkraftet werden als länger anhaltende (z.B. Kriege, Missbrauch), sich wiederholende oder verschiedene, auf einander folgende (sog. sequentielle).

Von Menschen willentlich verursachte Traumatisierungen (man made disaster) sind am schwersten zu überwinden.

5.1. Traumatherapeutische Ansätze

Es gibt verschiedene traumatherapeutische Ansätze, so zum Beispiel

  • Psychotherapeutische Verfahren

  • Psychoanalytische Verfahren

  • Verhaltenstherapeutische Verfahren

Diese drei gelten als „anerkannte“ Verfahren. Deshalb werden sie von der Krankenkasse erstattet bzw. zumindest bezuschusst.

Ebenfalls wirksame und weltweit angewandte Verfahren sind ausserdem

  • Narrative Verfahren

  • Imaginative Verfahren (z.B. nach Reddemann)

  • EMDR =Eye Movement Desensitization and Reprocessing

5.2. Ressourcenorientierte Verfahren

Innerhalb der ressourcenorientierten Verfahren bewährte sich besonders die

  • Mind-Body Medizin (nach Benson, Gordon, beide Harvard Medical School)
    Lebensstiländerung hin zu einer freudvollen, bewussten Lebensgestaltung mit Kreativität, Yoga und Achtsamkeit.
    Bewährt auch bei chronischen Erkrankungen und Schmerz.
    Gruppensettings.

  • MBSR (Mindfullness-Based Stress Reduction nach Jon Kabat-Zinn)
    Body-Scan – Yoga – Stille Meditation – Informelle Achtsamkeitsübungen im Alltag.
    Hohe Erfolgsrate bei Trauma, Angststörungen und Depression.

5.3. Die Behandlung von traumatisierten Kindern

Die Behandlung von traumatisierten Kindern stellt uns vor eine besondere Herausforderung, denn je nach Alter haben Kinder noch keine Möglichkeit der bewussten Reflektion. Sie müssen ihren Bedürfnissen und ihrer Erlebniswelt entsprechend angesprochen werden.

stART international hat in langjähriger Praxis in Krisengebieten nach Kriegen und Naturkatastrophen ein eigenes Konzept zur Behandlung von traumatisierten Kindern entwickelt. Dieses Konzept ist künstlerisch-pädagogisch und therapeutisch ausgerichtet.

Künstlerisch

  • Prozessorientiert,

  • Aus der Kultur der Klienten schöpfend

  • Beinhaltet Bildende Künste, Bewegungskünste, Musik, Theater, Erlebnispädagogik, Kunsthandwerk

Pädagogisch

  • Um rhythmisch gestaltete freudvolle, lebendige Lernprozesse bemüht, die gleichermassen Kopf, Herz und Hand ansprechen

  • In Gruppensettings

  • Sozialkompetenz fördernd

Therapeutisch

  • Unterstützend in der Trauma-Bewältigung durch Stärkung der Selbstheilungskräfte

Die interdisziplinäre Arbeit von stART international hat die Stabilisierung der Betroffenen zum Ziel und orientiert sich immer an den Ressourcen der Kinder und ihrer Bezugspersonen.

Ganz wichtig: Eine Traumakonfrontation findet nicht statt. Bei auftauchenden Trauma-Erinnerungen wird das Leid klar anerkannt („Das muss ganz schwer für Dich gewesen sein!”) und immer wieder nach der vom Kind angewandten Bewältigung der Situation gefragt: „Was hast Du dann gemacht, was hat Dir geholfen, wie hast Du es geschafft da rauszukommen?“

Nach und nach setzt (bei entsprechender Unterstützung) die eigene Verarbeitung ein, und zwar in dem Masse, wie die Selbstheilungskräfte erwachen. Nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten sind dabei hilfreich.

Die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen dauert bei einzelnen Menschen unterschiedlich lang. Auch das Ergebnis der Verarbeitung ist nicht vorauszusagen. Es gibt Menschen, die ihr Trauma ein Leben lang nicht ganz überwinden können und andere, die in der Lage sind die Ereignisse in ihre Biografie zu integrieren. Wenigen Menschen gelingt es sogar an einem traumatischen Ereignis innerlich zu wachsen. Ein solcher Verlauf wird posttraumatisches Wachstum genannt.

6. Stabilisierende Arbeit mit Muslimen – ohne kulturelle Übermächtigung

Was unbedingt bedacht werden sollte:

  • Menschen, die alles verloren haben, binden sich nicht leicht oder gerade eben zu schnell.

  • Zuverlässigkeit bildet Vertrauen. Lieber weniger Angebote, diese aber regelmässig.

  • Flüchtlinge aus muslimischen Ländern sind anders sozialisiert als wir selbst. Für sie ist die Gemeinschaft, die Familie von zentraler Bedeutung. Sie verfolgen oft weniger individuelle Lebensziele als die Interessen und das Wohl der Familie.

  • Traditionen und die Religion sind Anker in ihrem Leben, das von Eindrücken aus dem Gastland überflutet wird. Eine überstrenge Lebenseinstellung kann sich (vor allem bei älteren Menschen) ebenso zeigen wie vorübergehende Haltlosigkeit (v.a. bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen).

  • Im Alltag von Muslimen gibt es für uns unverständliche Regeln. Z.B. schmücken sie ihre Wände nicht mit Bildern, was darin begründet ist, dass sie diese ablenkend für ihr meditatives Leben halten. Also hängen wir auch die Zeichnungen von Kindern nicht immer auf, wenn wir sie mit den Kindern und Eltern betrachten, wir legen sie auf dem Tisch aus.

  • Auch in der Darstellung gibt es Stolpersteine: Gemäss dem islamischen Bilderverbot ist es nicht erlaubt, den Propheten und Heilige abzubilden, bei sehr strenger Auslegung darf gar nichts Lebendiges abgebildet werden.
    Nur selten kommt es vor, dass Kinder deshalb nicht zeichnen und malen dürfen, aber häufig sind sie ungeübt in der Darstellung von Menschen, Tieren und Pflanzen. Diesen Umstand interpretieren wir nicht.

  • Jungen und Mädchen aus muslimischen Familien dürfen höchstens bis zum Alter von etwa 9-12 Jahren zusammen spielen. Im höheren Alter werden sie in der Regel getrennt. Auch wenn es in der Schule anders ist: Es macht wenig Sinn, in diese Regel eingreifen zu wollen. Entsprechend ist es hilfreich, männliche und weibliche Betreuer für sie zu haben.

7. Stabilisierung durch Bewegung

Bewegung schafft Freude, Spannung und Entspannung.

Nach traumatischen Erlebnissen zeigen Menschen oft innerliche Erstarrung, korrespondierend dazu eine gewisse Handlungsunfähigkeit. Andere reagieren mit innerer Rastlosigkeit und Hypermobilität. Das bisherige Leben ist aus den Fugen geraten, Orientierung und inneres Gleichgewicht sind geschwächt.

Durch Angebote wie Jonglieren, Körperakrobatik, Spiele, Geschicklichkeits- und Vertrauensübungen, Tanzen und Eurythmietherapie werden Kinder und Jugendliche ermutigt, sich stärker zu spüren und sich in den beengten Verhältnissen eines Flüchtlings- oder Strassenlagers ihren Raum zu schaffen.

Myrtha Faltin - Trauma Konferenz - stART 2008 in einem georgischen Flüchtlingslager

Das Erleben der eigenen Geschicklichkeit stärkt das Selbstvertrauen nach der Erfahrung totaler Hilflosigkeit während einer Katastrophe. Teamzugehörigkeit und choreographische Gruppenformen stärken soziale Kompetenzen und vermitteln: gemeinsam sind wir stark!

Therapeutisch gesehen können Übungen, die zwischen Spannung und Entspannung wechseln, zwischen gross und klein, schnell und langsam, laut und leise usw. zum Abbau von Stress führen, da die seelische Schwingungsfähigkeit angeregt und lebendige Dynamik erneut zugelassen und gesteuert werden kann.

Der wiedergewonnene Rhythmus wirkt sich unmittelbar regulierend auf körperliche Prozesse wie Herzschlag, Atmung, Verdauung u.a. aus, die infolge von Schock und Stress oft beeinträchtigt sind.

Nach den meist kumulativen Traumata durch Kriegsgewalt und Fluchterfahrungen bleibt der Pegel von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin hoch, weil u.a. die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen oder auch in Übergangsheimen wenig geeignet ist, diese überschüssigen Hormone wieder abzubauen. Auch die oft jahrelange Ungewissheit im laufenden Prozess ums Bleiberecht bedeutet Stress und Stresshormone signalisieren immer:

Kämpfe oder fliehe!

Physiologisch gesehen werden Stresshormone durch Bewegung abgebaut, wie wir an wilden Tieren beobachten können, die, der lebensgefährlichen Bedrohung entronnen, aufstehen, sich schütteln und ohne Trauma-Symptome weiterleben.

Ganz so leicht gelingt es uns Menschen nicht, das erlebte Grauen abzuschütteln. Wir brauchen Zeit und Raum für einen eigenen Weg, um geschwächte neuronale Strukturen wieder aufzubauen und die Erinnerungen integrieren zu können.

Da jede kleinste Gehirnaktivität auch mit einem Gefühl verbunden ist, kann Bewegung den Weg frei machen für ein lebendiges und stabiles Seelenleben, um ausgewogen denken, fühlen und handeln zu können.

Einbeinig stehen, breitbeinig gehen, seilhüpfen, balancieren usw. geben jedes Mal einen stabilisierenden Impuls an die gelockerten/blockierten Nervenverbindungen zwischen den verschiedenen Gehirnarealen und geben Sicherheit zurück: Ich finde mich zurecht in Zeit und Raum, ich kann das!

Das in den Kinderjahren durch Nachahmung und viel frohes Schaffen aufgebaute Corpus callosum, die Brücke zwischen den beiden Gehirnhälften, kann nach der Destabilisierung durch das traumatische Geschehen durch viele Koordinationsübungen von links und rechts, oben und unten, vorne und hinten wieder gestärkt werden. Auch Bewegungen wie Arme ausstreichen, Händekneten, Fingerschnipsen, grosse Augen-, Mund- und Zungenbewegungen helfen die Gehirnstrukturen wieder zu stabilisieren, um eine neue Basis zu geben für angstfreie und adäquat verknüpfte Sinneserfahrungen, in denen die Seele sich wieder gut entwickeln kann.

8. Stabilisierung durch kreative Angebote: Zeichnen, Malen, Formen

Für Kinder wie Erwachsene hat es sich bewährt, Zeichnen, Malen oder Plastizieren mit Ton in der Gruppe anzubieten. Diese Elemente der Kunsttherapie wirken auf zwei Wegen: Sie helfen einen Ausdruck für Belastendes zu finden. Bevor dieses aber geschehen kann, beeindrucken sie durch die Schönheit.

Jedem Menschen wohnen kreative Fähigkeiten inne. Auch wenn diese mitunter verschüttet sind, haben die meisten Menschen und ganz besonders Kinder eine grosse Freude an jeglicher Art von Gestaltung.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass traumatisierte Menschen sich als schöpferisch erleben können oder zumindest als Gestalter. Nur so können sie die Opferrolle nach und nach ablegen.

9. Handarbeit und Handwerk

Bei gestalterischen Angeboten kann und muss man, gerade bei Erwachsenen, auch die Handarbeit und die verschiedenen Kunsthandwerktechniken mit einbeziehen. In jeder Kultur gilt das Herstellen von schönen Alltagsgegenständen als eine Tugend. Stricken, Nähen, Schnitzen und viele andere Handarbeiten und Kunsthandwerkstechniken eignen sich gut, um ein inneres Ankommen zu ermöglichen und durch die notwendigen Bewegungsabläufe die Zusammenarbeit der beiden Gehirnhälften zu fördern. Darüber hinaus sind solche Angebote kulturadäquat und helfen miteinander in Kontakt zu kommen.

Myrtha Faltin Trauma Konferenz - stART Raum schaffen für Kunst. Moria, Flüchtlingslager auf Lesbos

Bei unserem künstlerischen und kreativpädagogischen Arbeitsansatz kommt der manuellen Tätigkeit eine wichtige Bedeutung zu. So wie die grossmotorische trägt auch die feinmotorische Bewegung dazu bei, dass die Gehirnstrukturen, die durch eine akut-traumatische Erfahrung beeinträchtigt wurden, sich wieder reorganisieren können. Durch die Unterbindung des Informationsflusses vom Stamm- und Kleinhirn zum Grosshirn im Limbischen System während eines Schocks setzt sich das Erlebte im Körper fest. So sagen wir in der Umgangssprache: “der Schreck sitzt in den Gliedern, ein Eindruck geht unter die Haut“.

In der Stabilisierungsphase setzen wir deshalb in der Körperbewegung an, weil nur diese eine seelische und geistige Bewegung auslösen, die Energie wieder zum Fliessen bringen und damit die Selbstheilungskräfte aktivieren kann. Rhythmische und wiederholende Tätigkeiten, kreuzende Bewegungen, kraftvolle Sinneseindrücke sind dabei besonders heilsam.

Im achtsamen Arbeiten gelingt es den Kindern leichter, den Fokus im „Hier und Jetzt“ zu halten, und so ist die Konzentration besser und die Resultate befriedigender als bei rein kognitiven Anforderungen. In diesem Sinne stellt die handwerkliche Tätigkeit eine wirksame Reorientierungs- Hilfe dar und wirkt der Dissoziation entgegen.

Im schöpferischen Tun und Gestalten erleben Kinder und Erwachsene, dass sie selbst wirksam werden können und entkommen dabei zunehmend der Opferrolle. Das Gefühl der Zufriedenheit und die angenehme Arbeitsstimmung vermindern den Stresslevel und erweitern gleichzeitig den Wohlfühl-Bereich.

Für die Kinder, die durch eine Katastrophe oder die Flucht oft alles verloren haben, ist es ganz wichtig, sich neue eigene „Schätze“ zu schaffen, zu denen sie dann eine Beziehung aufbauen können. Dementsprechend wählen wir geeignete Werkstücke oder Handarbeiten, wie beispielsweise Täschchen, Glücksbringer, Schmuck und Spiele. Wesentlich ist auch, dass die Erinnerung an die positive Erfahrung des gemeinsamen handwerklichen Tuns als schönes Erlebnis helfen kann, düstere traumatische Bilder aus der Vergangenheit allmählich verblassen zu lassen.

Eurythmy4you Trauma Konferenz

Myrtha Faltin, Gründungsmitglied und Vorstand von stART international berichtet an der Eurythmy4you Traumakonferenz über den interdisziplinären Arbeitsansatz von stART mit Fotos aus der interkulturellen Arbeit und zeigt praktische Übungen.  Die praktischen Übungen entstammen der Arbeit als Eurythmie-Therapeutin, der theoretische Hintergrund ist oben unter Punkt 7 ausgeführt. Die Aufzeichnungen ihrer Vorträge sind in den Proceedings der Konferenz enthalten.


Eurythmy4you Trauma Konferenz
Traumatherapie und posttraumatisches Wachstum
Theorie, Erste Hilfe und komplementäre Therapie
Konferenz Proceedings - Videos der Vorträge und Workshops


Copyright: Dieses Handout, das für die Fortbildung von Flüchtlingshelfern erstellt wurde, kann in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit haben. Es ist vielmehr als Gedächtnisstütze für die TeilnehmerInnen des stART-Seminars gedacht. Es ist copyrightgeschützt. Alle Rechte liegen bei stART international e.V. emergency aid for children.

Fortbildung: Sollten Sie an einer Fortbildung durch ein stART-Team interessiert sein, so schreiben Sie uns: info@start-international.org, www.start-international.org

Bilder: Myrtha Faltin, stART international

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